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Mein Land


Mein Land ist die Strasse, wo ich meine ersten Schritte gemacht habe. Mein Land ist die Stadt, in der ich geschaffen wurde und mich selbst schuf, in der ich beschenkt und bestohlen worden bin, die mir die Welt öffnete und mich in den Rahmenbedingungen des Zeitalters einschloss. Mein Land ist verschiedengestaltig. Hier gibt es Barmherzigkeit und Begierde, Selbstopfer und Betrug, seelischen Reichtum und peinliche Leere. Hier kann man nicht immer daran glauben, was man sieht und hört. Hier gibt es eine Dummheit, die Dummheit verklagt. Hier gibt es auch eine unglaubliche Wärme des Herzens.

Es gibt hier eine Art von Menschen: nachdem man ihre Augen gesehen hat, weiss man, dass es wert ist, weiter zu leben. Es gibt hier Banditen und Strassenprediger und Menschen, die unter Brücken schlafen und auch solche, die sich von anderen mit einem dunklen Fenster abtrennen. Es gibt in Exil verbannte Menschen und die, die sie verbannt haben. In Schulen gibt es belastbare Lehrer und auch Händler, die Narkotikas verkaufen. In Gerichten arbeiten hilfslose Richter, ab und zu werden Telefonate abgehört. Einige Menschen kümmern zuerst um sich selbst und um ihre Familien, erst dann sind sie bereit, die Welt zu retten. Einige Menschen begeben sich, mit nackten Händen die Welt zu retten und können es nie lernen, über sich selbst zu denken. Es gibt hier bestochene Mörder und arme Polizisten. Es gibt gute Ärzte und Krankenkassen, die Bankrott gegangen sind. Jugendliche können frei Alkohol kaufen und ihr Geld in Spielsalonen verspielen. Es gibt hier das Monument der Freiheit und aus Butter gestaltete Figur des ersten Staatspräsidenten (Ulmanis). Es gibt prächtige Feiern und eine verborgene Hoffnungslosigkeit. Es gibt hier unglückliche arme Leute und noch unglücklichere reiche Leute. Es gibt hier Jubel der Fussballspiele und Einsamkeit der Invaliden. Einige sind unglaublich tapfer, andere steif vor Angst.

Hier sind die besten Menschen auf der Welt und auch solche, die Mitleid erregen. Es gibt Leute, die den Wittgenstein auszuwerten verstehen und solche, die nicht lesen können. Manche Leute sprechen unterschiedliche Sprachen, haben aber gleiche Gedanken. Es gibt hier viele Don Quichottes und viele Sancho Pansas. Es gibt hier viele Karlssons und viele kleine Brüder, viele Winnie der Pu Bäre und ihre Freunde. Es gibt hier Blinde, die sehen können und gesunde Menschen, die blind sind. Einige Menschen verlieren ständig den Himmel, andere entdecken den Himmel immer wieder. Es gibt Belasch und Sushi zum Essen. Es gibt Menschen, die den schweren Weg zur Selbstauswertung und Selbstgestaltung gegangen sind, es gibt Menschen, die die eigenen Kräfte nie gespart haben. Es gibt Menschen, die für anderen leben und auch solche, die die anderen noch gar nicht bemerkt haben.

Einige Leute sind stolz auf ihren nationalen Pass, einige stehen hoffnungslos in den Schlangen an den Behörden. Es gibt hier Hunde, die Kinder beissen. Einige Verräter sind Helden geworden; gleichzeitig gibt es einige Helden, die niemand kennt. Es gibt Menschen, die die Geschichte nicht vergessen wollen, aber bei manchen fängt die Geschichte heute erst an. Es gibt hier bittere Erinnerungen über die Besatzung, aber einige zweifeln daran, dass es die Besatzung je gegeben hat.

Es gibt die Opposition in der Regierung, die mit der zentralen Gruppe (Position) nur deswegen raufen, weil sie ebenso viel haben will, wie die letzte. Es gibt hier die Befreier und Retter der Arbeiter, die die Arbeiter am meisten bestehlen. Es gibt viele Talente, die die Welt überraschen. Es gibt Armeeparaden und kranke Generäle. Es gibt Menschen, die immer wieder ängstlich auf Russland und Amerika schauen und deswegen sich selbst nicht sehen können. Es gibt Schlamm unter Füssen und Himmel mit Sternen über den Kopf. Es gibt Überlebende in Fernsehstudios und es gibt Überlebende in wackelnden Holzhütten. Die hellen Augen der Kinder wollen an alles glauben, manche Leute glauben an gar nichts mehr. Einige hassen diesen Staat, einige empfinden immer noch eine heisse Liebe dem Staat gegenüber. Es gibt hier traurige weise Menschen und fröhliche naiive Menschen. Es gibt Menschen, die von Erinnerungen an die Vergangenheit leben und Menschen, die nur auf die Zukunft hoffen. Es gibt Leute, die sich ineinander verlieben und wandern unter Kirschblüten. Einige freuen sich über das Leben, was sie jetzt in diesem Augenblick haben. Es gibt Menschen, die es wagen, glücklich zu sein.

Hier bin ich. Hier sind meine besten Freunde, hier sind die Menschen, die ich am meisten liebe und auch die, die ich noch nicht gelernt habe, zu lieben. Das ist mein Land. Damit ist mir genug. Es ist sehr verschiedenartig und trotzdem gut und lieb so, wie es ist.


Juris Rubenis (Pastor aus Lettland)




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